Flüchtlinge: Warum wir heute für die Fehler der Vergangenheit zahlen und was sich ändern muss

Die gute alte Zeit?

Es gab einmal die Zeit der Kaiser und Könige in Europa, in der jeder Monarch – natürlich mit dem Segen der Kirche – glaubte, sein Reich vergrößern zu müssen. Es stand viel Land zur Verfügung, die Herrlichkeit der eigenen Kultur zu beweisen; nämlich das Land der Heiden und Andersgläubigen. Die Opfer des nationalen Größenwahns machten die Erfahrung: erst kommen die Missionare, dann die Soldaten.
Die Aktionen waren sehr erfolgreich. Deutsche, Engländer, Franzosen und sonstige Christennationen, mit dem Kreuz auf der Brust und dem Schwert in der Hand, teilten die Welt untereinander auf. Somit waren die Seelen der Heiden gerettet und der Nation Glanz und Gloria verliehen.

Die neuen Chefs legten mit Bleistift und Lineal neue Grenzen fest. Sie nutzen dabei die natürlichen Grenzfunktionen großer Flüsse in Afrika und anderen Ortes. Wichtiger als der Zusammenhang der Stämme und Kulturen waren ihnen militärisch klare Grenzen für die Beherrschung der neuen Untertanen. Und die Böden der weltweit neuen Imperien machten sich prächtig als Anbaugebiete für die Christenmutterländer. Algerien wurde die Kornkammer Frankeichs, Indien die Baumwollkammer Englands, usw.. Mit der Entdeckung der Maschinen kam auch dem Erdöl eine neue Rolle zu. Die Länder von „Ali Baba und den tausend Räubern“, spezialisiert auf Dattel- und Teeexport, wurden die neuen Energiequellen der alten Reiche. Die Kolonialländer wurden „geadelt“ durch die Anwesenheit europäischer Prinzen an der Spitze ihrer Verwaltung, die Glücklichen.

Heute herrschen in den ehemaligen Kolonialmutterländern Chaos und neue Chefs

Die Politik der Linealstriche rächte sich. Zusammengewürfelte Stämme und Nationen kämpfen heute in diesen Gebieten um die Macht. Vordergründig geht es wieder um den rechten Glauben. Muslime bekämpfen Christen in Somalia und wiederum ist die Religion mehr Herrschaftsinstrument als frohe Botschaft. Noch deutlicher ist das in den Gebieten des Nahen Ostens. Muslime schneiden sich die Hälse durch im Namen des rechten Glaubens. Die „Söhne Mohammeds“ streiten sich immer noch – vordergründig – um die richtige Nachfolge des Propheten im Kampf der Sunniten gegen die Schiiten. In Wirklichkeit geht es um die Macht der neuen Eliten, die den Kolonialherren in Auftreten und Amtsführung in nichts nachstehen. Verstärkt wird dieser Konflikt durch die Einbindung der Konfliktparteien in die regionale Machtpolitik und in die Großmachtpolitik.
Von den 170.000 Menschen, die im Jahre 2014 über das Mittelmeer flüchteten, kamen 42.000 aus Syrien.

Aus den Befreiungskriegern gegen den Kolonialismus sind „neue Kaiser“ hervorgegangen, die zum Teil in der alten Kolonialtruppe ihr Handwerk, die Unterdrückung, gelernt haben. Die neuen Eliten, den Lebensstil und die Kultur der alten Chefs kopierend, erwiesen sich als gute Schüler. Die Spezialisierung auf Rohstoffexport, zum Vorteil der Mutterländer der ehemaligen Kolonien, besteht immer noch. In die Verteilung des Reichtums wurden die neuen Eliten mit einbezogen, die Mehrzahl der Menschen vor Ort nicht. Der schlimmste Fall ist Eritrea. Der frühere Freiheitskämpfer, Isaias Aferki, hat sein Land in zwanzig Jahren Alleinherrschaft seiner Partei, zu einem Terrorstaat verwandelt, zu dem er nicht einmal der UNO Zutritt gewährt. Andersdenkende verschwinden in riesigen Gefängnissen und werden gefoltert. Die Politikwissenschaft nennt diesen Zustand „Postkolonialismus“. Isaias Aferki kopiert den Kolonialismus noch perfekter.
Von den 170.000 Menschen, die im Jahre 2014 über das Mittelmeer flüchteten, kamen allein 34.000 aus Eritrea.
Die „alte Welt“ hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Das Wissen, dass die Ursachen von Armut und Gewalt struktureller Natur sind, ist nicht neu. Ebenso ist bekannt, dass ein Wandel der Personen, das System der Ausbeutung allein nicht beendet. Die neuen Eliten der „Dritten Welt“ haben in den Armeen und Universitäten der Mutterländer der ehemaligen Kolonien die Techniken der Macht gut gelernt, und wenn sie keine politische Moral mitbringen, so verändert sich am Schicksaal der Menschen dort wenig.

In den 70er Jahren hatten wir Helden in der Politik, die am eigenen Leibe staatlichen Terror erfahren hatten, Willy Brandt z.B. im Kampf gegen staatlichen deutschen Terror in der NS-Zeit. Ihnen waren Strukturen und Traditionen nicht heilig. Sie schafften eine neue Ostpolitik und sie wollten die Welt mit einer neuen Weltwirtschaftsordnung aber auch Umweltordnung besser, gerechter und fit für die Zukunft machen.

Der Schwung hielt einige Jahre an. Auf UN-Ebene wurde 1974 eine neue Weltwirtschaftsordnung beschlossen, sie blieb Papier. Die Welt sollte nachhaltig gerechter und sozialer werden. Umweltziele wurden formuliert und nie erreicht. Der Schwung verebbte, es wurde stiller um die Reformen. Den Visionären (Willy Brandt, Olof Palme, Jimmy Carter, etc.) empfahlen ihre Nachfolger im Amt Hausbesuche beim Arzt ihres Vertrauens, Visionen wurden mit Neurosen gleichgesetzt. Die „Neuen im Amt“ realisierten primär neoliberale Konzepte. Die Strukturen der Ausbeutung in der Dritten Welt blieben vielerorts bestehen.

Die Folge: Weil „die Realpolitik“ in den folgenden 80er Jahren die in den 70er Jahren erkannten Defizite nicht aufarbeitete, sich in „moralischen Reformen“ gefiel, die jedoch nur die alten Strukturen verfestigten, erleben wir heute Flüchtlinge in Millionenzahl.
Die „gesunde Anarchie der Wirtschaft“ blieb das internationale Credo. National, später auch in größeren Organisationen wie der Europäischen Union (EU), gestatteten sich die zu „Bürgern“ avancierten „Untertanen“ mehr soziale Sicherheit für die eigenen Länder. Wäre das Ziel einer weltweiten Umwelt- und Sozialgemeinschaft in Verbindung mit einer Achtung der Menschenrechte realisiert, würden die meisten Flüchtlinge wohl kaum aus ihrer Heimat fliehen.

Die Opfer der guten alten Zeit und der Weltwirtschaft stehen nicht mehr vor den Toren, sondern im Hof

Heute stehen die Flüchtlinge nicht mehr vor den Toren der alten Kaiserreiche, sie sind in den Höfen der Folgestaaten angekommen, weil ein menschenwürdiges Leben vor den Toren nicht mehr möglich ist.

Wir sehen das und sehen die historische Logik auch ein. Die Opfer der Glaubenskriege des Nahen Ostens bekommen Schutz in Form von Asyl oder dürfen bleiben, solange Krieg herrscht (Duldung). Flüchtlinge aus den vom Terror beherrschten Gebieten Syriens, Somalias und Eritreas z.B. haben in Deutschland eine sehr gute Chance, Schutz in irgendeiner Form zu finden, fast alle dürfen bleiben.

Diese Politik aber löst die Probleme in den Ländern nicht. Menschen in Not werden weiter fliehen müssen. Von „Staaten zum Weglaufen“ spricht Amnesty International bzgl. der Lage der Menschen in Somalia und Eritrea. Das eine Land sei „eine finstere Diktatur, das andere ein Hort von Anarchie und Gewalt“. Beide Länder führen die Liste der Flüchtlingsländer an. Erst wenn es uns gelingt, die Fluchtursachen zu beheben, können wir mit uns zufrieden sein. Was könnte uns dazu motivieren?

Was würden Millionen weitere Flüchtlinge für Deutschland erreichen? Neue Wege werden zaghaft beschritten

Viele sind moralisch und ideell motiviert, helfen so gut sie können mit Geld, praktischer Hilfe vor Ort, Unterricht, etc. und das ist gut so. Andere, bislang die Mehrheit, sind erst motivierbar, wenn die eigene Situation es verlangt.

Frage: wie viele Flüchtlinge müssen wir in Deutschland noch aufnehmen, wie viel schwieriger muss deren Unterbringung werden, damit sich die Diskussion verändert. Damit die Fragestellung, wie beheben wir die Ursachen der Flucht medial stärker in den Vordergrund rückt und für die Politik attraktiver wird als die Frage, ob und wie wir die Flüchtlinge „gerechter“ verteilen oder ob wir die Wassergräben tiefer und die Mauern um Europa herum höher bauen?

In vielen psychologischen Seminaren (Kommunikationstrainings) über den fairen Umgang mit Migranten und Flüchtlingen höre ich Klagen aus den Kommunen über große Zumutungen für die Kommunen angesichts der vielen Flüchtlinge. Weniger häufig wird nach den Zumutungen gefragt, welche die Flüchtlinge erlitten haben. Selten wird die Frage gestellt, was wir tun können, um die Fluchtursachen zu beheben.

Immerhin, viele Gemeinden bemühen sich heute schon, ihre Mitarbeiterinnen fit zu machen für den großen Ansturm der Menschen auf den sicheren Hafen Europa und auf den noch kommenden, größeren Ansturm, der zur Zeit unvermeidbar ist. Eine für alle Betroffenen – Flüchtlinge und die hiesigen Menschen – faire Kommunikationskultur zu etablieren ist das wenigste, was wir tun können, um für die Sünden der Ahnen gerade zu stehen.
Die Zukunft besser zu gestalten, erfordert politischen Mut. Packen wir es an!