Hendrik Wüst: Rhetorik und Körpersprache im Wandel der politischen Kultur

12.11.2021

Teil des Seminar-Programms: Körpersprache und Rhetorik

Hendrik Wüst, eine Hoffnungsgestalt der CDU?

Hendrik Wüst ist noch keine fünfzig Jahre alt und bereits der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Deutschlands, Nordrhein-Westfalen. Manche sagen, diese Macht sei ihm in den Schoß gefallen, weil sein Vorgänger im Amt, Armin Laschet, die landespolitische Ebene mit der bundespolitischen Ebene (Bundestag) getauscht  habe. Anderen gilt er als lang erwartete Hoffnungsgestalt der CDU, einer sich aktuell im Polit-Streit zerfleischenden konservativen Partei. Dazu benötigt er allerdings große diplomatische, intellektuelle und moralische Fähigkeiten, rhetorische und körpersprachliche Kompetenzen.

Eine Analyse seines öffentlichen Verhaltens zeigt, dass Hendrik Wüst im Laufe der letzten Jahre eine Wandlung seiner Performance, seines öffentlichen Auftretens, vollzogen hat.

Hendrik Wüst in der maskulin dominierten Kulturwelt der 90er Jahre

Als Hendrik Wüst die politische Bühne betrat, er gründete 1990 mit Freunden den lokalen Stadtverband der Jungen Union in Rhede (Münsterland), zeigten viele erfolgreiche Männer ein James Bond-Auftreten. Es war die Blütezeit der Macho-Männer in der Politik, wie Gerhard Schröder und Helmut Schmidt, die leger auftraten und angriffslustig in der Rhetorik waren. Druck machen, hart auftreten, offensiv Mann sein, sind die Kennzeichen der damals in Deutschland dominanten maskulinen Gesellschaftskultur. „The winner takes it all“, sang ABBA und Hendrik Wüst spielte mit, scheiterte aber mit seiner 90er Jahre Performance.

Videos aus den Jahren 2008 und 2010 zeigen einen Hendrik Wüst, mit „meist etwas abgehackt vorgetragenen Reden, einem robustem Ton und einer raubeinig forschen Art“ (news.de vom 27.10.2021). Er zeigt in seinen damaligen Reden wenig Körpersprache. Seine Muskulatur ist angespannt, sein Ton hart, sein Blick herausfordernd. Seine Rhetorik galt als „zackig bis schneidig“(WDR 26.10.21).

Im Jahre 2010 musste Wüst als Generalsekretär zurücktreten. Seine „Abteilung Attacke“ hatte übertrieben, seine Arbeit als „Partei-Krieger“ die auch interne CDU-Mitstreiter betraf, wurde angesichts einer „Pannenserie“(PR online 22.2.2010) beendet.  Die Episode „Rent a Rüttgers“, für 6000 Euro wurden Unternehmen vertrauliche Gespräche mit CDU Ministerpräsident Jürgen Rüttgers angeboten, ließ ihn auf großer Bühne abstürzen.

Aber er fiel weich, wurde Geschäftsführer, unter anderem beim NRW-Verlegerverband. Sein Landtagsmandat behielt er, galt als treibende Kraft der einflussreichen Mittelstandsvereinigung in der NRW-CDU. Im Jahre 2017 ernannte ihn Armin Laschet zum Verkehrsminister. „Viele von Euch haben mich hier erwachsen werden sehen und auch straucheln,“ sagt er als neuer CDU-Chef nach seiner Wahl am 23.10.2021. „Sinnes- oder Stilwechsel“, fragte sich Arne Hell vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) kurz darauf.

Hendrik Wüst erfindet sich neu in der femininen Kultur mit Homestory und Helo-Effekt

Im Jahre 2021 ist die gesellschaftliche Musik eine andere. Die Gesellschaft ist von „femininen Werten“ geprägt. Die Maximen lauten: Frauen und Männer sind im Privat- und Berufsleben gleichgestellt. Breit anerkannte gesellschaftliche Ziele sind: eine gute Lebensqualität, eine Wohlfahrtsgesellschaft, ein hoher Frauenanteil in der Politik. Als gute persönliche Werte gelten: Bescheidenheit, Familienorientierung, rücksichtsvolles und gefühlsbezogenes Verhalten, eine soziale Einstellung.

Und Hendrik Wüst spielt wieder mit. In der inszenierten Homestory sympathisierender Medien gelingt Wüst die neue Rolle ausgezeichnet. Dort zeigt er sich sportlich im Liegerad, aber mit Anzug und Helm auf dem Weg zur Arbeit. Wir sehen ihn mit auf dem Bauch geschnalltem Baby, konzentriert ein Buch lesend. Er sei ein Aktenfresser, wird verlautbart.

Zu seiner Wahl als  NRW-Ministerpräsident kommt er demonstrativ mit  dem Kinderwagen, den er persönlich fährt, seine Frau geht an seiner Seite. Alles ist in Dunkelblau gehalten, sein Anzug, der Mantel und die Handtasche seiner Frau, der Kinderwagen. Hendrik Wüst ist „everybody´s darling“, ein Mann, eine Familie, wie aus dem Modekatalog.

Hendrik Wüst scheint mit dem Helo-Prinzip gewinnen zu wollen. Beim Helo-Prinzip, (helos=griechisch das Licht), überschattet eine gute Eigenschaft alle anderen Eigenschaften. Menschen projizieren dann z. B. auf einen in ihren Augen attraktiven Menschen alle möglichen guten Eigenschaften. Dabei setzen Menschen schön und gut z.B. miteinander gleich. So gelang dem politischen Leichtgewicht, John F. Kennedy, im Jahre 1961 die Wahl zum 35. US-Präsident.

Der neue Hendrik Wüst in NRW-Heimspielen

Bei „Heimspielen“ in Nordrhein-Westfalen zeigt sich Hendrik Wüst gelassen und „gekonnt“ authentisch. Er sei ein „Macher“, sagt Armin Laschet über ihn. Hendrik nimmt die neue  Rolle an, lebt sie, wie auch die 90er Jahre Rolle. Er ist auch hier wieder „echt“, er ist ein Kind des Zeitgeistes. Rhetorik und Körpersprache ändert er, wenn nötig.

Als er am 23.10.2021 in Bielefeld zum neuen Parteichef der CDU in NRW mit 98.3 Prozent der Stimmen ohne Gegenkandidaten gewählt wird, und auf der Bühne die Wahl annimmt, zeigt er kontrollierte Emotionen. Eine Hand greift die andere Hand in der Höhe des Bauchnabels, die Hände sind so gebunden. Seine Zunge fährt kurz über die Lippen, trockener Mund und Lippen zeigen Stress an. Als er vom Wahlergebnis hört, sitzt er noch in der ersten Reihe im Saal. Er bleibt einen Moment sitzen, erhebt sich dann und legt die rechte Hand aufs Herz, dann verzieht er das Gesicht zu einigen mimischen Gesten oder sein Gesicht verzieht sich. „Gesichtsdisko“, heißt dieser Moment, wo das limbische System unterschiedlichste Emotionen körpersprachlich verarbeitet und verwirrende Abläufe der Mimik entstehen können. Eine originäre Körpersprache ist hier ehrlicher als Worte oder geschulte Gesten, sie entzieht sich der Kontrolle. Hendrik Wüst sagt, dass er die Wahl annimmt und „sich ein Bein ausreißen wird, die Vorschusslorbeeren auch zu rechtfertigen“. Er geht dann schnell von der Bühne, hat dabei die Augenbrauen hochgezogen. Die den Fernsehbeitrag kommentierende Journalistin fragt skeptisch, ob das nun der ersehnte Neuanfang der CDU sei, zu mindestens in Nordrhein-Westfalen.

Bei seiner ersten großen Rede als NRW-Ministerpräsident, liest Wüst die Rede oft vom Blatt ab, er liest gerne vom Blatt ab. Inhaltlich ist die Rede ein einfaches „weiter so“, beinhaltet nichts Neues, nichts Aufregendes, er übernimmt das Kabinett Armin Laschet komplett, er war dort Verkehrsminister. Seine Stimme ist wegen des häufigen Ablesens der Rede zeitweise monoton, seine Motorik gebremst. Seine Körpersprache zeigt die klassischen Politik-Gesten, wenngleich gebremst. Er hält seine Hände gebunden, das soll Souveränität vermitteln. Mal streckt er eine oder beide Hände, mit der Innenhand nach oben, dem Publikum entgegen, die Angebotsgeste. Die Hackmesser-Geste – beide Hände hacken nach vorne ausgestreckt, die Innenhandflächen zueinander gerichtet – betont leidenschaftlich Wichtiges, wird angedeutet. Worte und Körpersprache sind unaufgeregte Routine. Seine Regierungserklärung langweilt das Plenum nach kurzer Zeit sichtbar. Die Abgeordneten bearbeiten Akten, tippen in Handy oder Notebook. Ein charismatischer Redner ist hier nicht tätig. Das verlangt seine neue Rolle aber auch nicht.

Hendrik Wüst wirkt heute jugendlich im Umfeld halb greiser Polit-Füchse in der CDU. Er wirkt medial manchmal hilflos oder er spielt möglicherweise damit. Er scheint Beschützer- Instinkte bei manchen Journalisten/innen auszulösen. Grünen Politiker, Robert Habeck, ist auf dieser Woge weit nach vorne geschwommen.

Hendrik Wüst: Hände sprechen Bände und wo Wüst in der neuen Rolle scheitern könnte

Hendrik Wüsts Hände zeigen deutlich den Stress an, den Life-Sendungen ihm bereiten. Da wird er zum Beispiel nach seiner privaten Mobilität gefragt, wie er denn zur Arbeit komme.

Er fährt sich in solchen Situationen mal durchs Gesicht, kratzt sich an Nase, Kinn und Kopf. Das sind bekannte Stress-Gesten. In Stresssituationen greifen Menschen zu typischen Beruhigungsgesten, den sogenannten Adaptoren. Ein Griff ans Ohrläppchen, das Kratzen am Kinn oder die Berührung der Handinnenflächen zählen dazu. Die Zunahme von Adaptoren deuten meistens auf Stress, auf Unbehagen oder erhöhte Konzentration hin.

Unsere Ur-Vorfahren, hätten sich im Stress mit beiden Händen in die Haare gegriffen, die Muskeln drohend gestrafft und finster geschaut. Die Rede ist vom Neandertaler Syndrom, dem urmenschlichen Verhalten bei Gefahren. Wir haben im Laufe der Evolution gelernt, uns zu beherrschen, aber es gelingt nicht immer vollkommen. Das Stress-Hormon Adrenalin zersetzt die beste Planung, blockiert Wort-Akrobatik und Schlagfertigkeit, die Hendrik Wüst im Nicht-Stress-Modus beherrscht. Aber Körpersprache ist ehrlicher als Worte.

Die Hände von Hendrik Wüst sind groß. Er hat sich neuerdings angewöhnt, diese auf Bauchnabelhöhe ineinander zu verschränken und gestisch bei wichtigen Auftritten auf Minimalismus umzuschalten. Nur die Mimik spielt nicht richtig mit. Manchmal lebhaft zuckende Augenbrauen sind das Kontrastprogramm zur starren Hornbrille im gefälligen Karamell-Ton. In diesen öffentlichen Momenten bleibt seine Stimme dagegen ruhig und beherrscht. Er  kann aber auch rheinländisch beschwingt sprechen, wenn das von Vorteil ist oder in den Slang der Heimatstadt Rhede zurückfallen. Dann wird die Grammatik unscharf, er spricht im Singsang der Heimat-Region. Stimme gilt als Ausdruck von Stimmung und seine Stimme ist sehr kontrolliert und er beherrscht sie in der neuen genau wie in der alten Rolle. Sie klingt nur anders.

Er wippt nicht mit den Füssen, seine körperliche Größe macht dieses Ringen um die Lufthoheit mit  anderen Politikern unnötig. Als CDU- und NRW-Landeschef bemüht er sich, gerade beim Thema „Corona“, um einen souverän festen Stand und präsidentielle Gestik, auch wenn diese sehr reduziert ist.

Große Sendeanstalten aber lieben Slapstick-Momente medialer Größen und körpersprachliche Entgleisungen. Manche derer Journalisten/innen sind darauf aus, diese zu provozieren und den dazu notwendigen Stress herzustellen. Armin Laschet hat das im Wahlkampf 2021 erlebt. Abhilfe schafft hier Training, innere Ruhe und Entspannung. Die Komfort-Zone der Home-Story und des Parlamentes ist klein.

Hendrik Wüst hat einen Lauf

Hendrik Wüst ist nun ganz oben angekommen. Er wohnt mit seiner Frau nobel in Düsseldorf und fährt, wie er betont, morgens mit dem Rad zur Arbeit. Er hat diese Karriere angestrebt, nun wird er mit den Folgen leben müssen. Hendrik Wüst ist sozial intelligent, er kann neue Rollen spielen, diese nach Belieben modifizieren. Er sollte noch lernen, den Stress körpersprachlich besser in den Griff zu bekommen. Die Frage nach der Authentizität all dessen, wird er sich vielleicht später stellen. Zur Zeit scheint das Machen all seine Energie in Anspruch zu nehmen. Wir werden wohl noch viel von ihm hören. Und wenn die Oldies in der CDU-Chefetage gegangen (worden) sind, wird er auch dort zu finden sein.